Bereits hoch verschuldet und dann brennt auch noch die Arbeitsstätte ab? Kein Kredit, keine Versicherung kann jetzt noch helfen. Wer kann, hat die Firma bereits verlassen. Das was vom Büro, von den Arbeitsplätzen noch übrig ist – alles Teil der Insolvenzmasse. Für viele Unternehmen wäre die Geschichte hier auch schon zu Ende erzählt. Aber was macht man, wenn man keine Agentur, keine Firma, kein Handwerksbetrieb, sondern Island ist?
Ein ganzes Land im Zuge der Bankenkrise: Plötzlich pleite. Ein den Himmel verdunkelnder, aschespuckender Vulkan quasi im Vorgarten und kein:e Tourist:in lässt sich mehr blicken. Klingt wie der Auftakt zu einem mittelmäßigen Endzeit-Blockbuster, in dem Jeff Goldblum (oder Heino Ferch) nicht nur Frau, Kind, Pony, sondern die Welt retten muss. Für Island war es der Auslöser, eine der größten Tourismuskampagnen zu starten, die jemals entwickelt wurden: Inspired by Iceland.
Island ist ein kleines Land. Die Einwohnerzahl entspricht in etwa der Wuppertals. Über 80 Prozent der Isländer glauben an Elfen. Traditionelle Gerichte sind gekochter Schafskopf, in Molke eingelegte Hammelhoden oder der stinkende, fermentierte Grönlandhai, dessen Verzehr inzwischen zur touristischen Mutprobe geworden ist. Bier ist in Island erst seit 1989 legal. Über 60 Prozent aller Isländer leben in und um die Hauptstadt Reykjavik, die ein Penismuseum mit 282 Exponaten beherbergt. Das isländische Telefonbuch ist nach Vornamen sortiert, da es fast keine klassischen Nachnamen gibt. Bei Dates alarmiert eine Inzest-App, falls die Gene zweier Isländer:innen zu ähnlich sind. In Island gibt es durchschnittlich 45 Erdbeben pro Tag und etwa alle fünf Jahre einen Vulkanausbruch. Was also tun, um dem Land der wilden Landschaften, des oft miesen Wetters, der Mythen und Verrücktheiten wieder auf die Beine zu helfen?
Um Islands Natur und Kultur im Ausland zu vermarkten, den Tourismus anzukurbeln und damit zumindest diesem Zweig der angeschlagenen Wirtschaft auf die Beine zu helfen, wurde zu einem sehr cleveren Mittel gegriffen. Man mobilisierte kurzerhand alle Isländer:innen und machte sie zum Teil der Kampagne. Zum Auftakt 2010 überschwemmte die gesamte Nation innerhalb einer Stunde die Welt mit E-Mails, Twitter- und Online-Nachrichten sowie E-Cards und rief dazu auf Island zu entdecken. Zeitgleich wurden diverse kulturelle Events (online und live) organisiert, um zu zeigen wie vielfältig das Land ist. Über Social Media und die zugehörige Website konnten (und können auch heute noch) Tourist:innen global ihre Island-Impressionen und -erlebnisse teilen. Es folgten Marketingideen wie die Aktion „Offene Türen“, bei der Isländer Tourist:innen zu sich einluden, um mit ihnen etwas typisch isländisches zu erleben. So wurde bspw. einigen Gästen vom damaligen isländischen Präsidenten Olafur Ragnar Grimsson persönlich Pfannkuchen mit Schlagsahne und Rhabarber-Marmelade serviert.
Schnell zeigte sich, wie erfolgreich die Maßnahmen waren. Island wandelte sich vom Geheimtipp zum weltweit sehr beliebten Reiseziel. Der Tourismus wurde zu einer der wichtigsten Einnahmequellen und trug maßgeblich zu einer schnellen Verbesserung der wirtschaftlichen Lage bei. Und dann fuhr Island 2018 als bisher kleinste Nation zur Fussball-WM nach Russland. Wer bisher immun gegen den freundlichen Charakter des etwas verschrobenen, aber gerade dadurch so sympathischen Landes war. Und wer trotz Marketing, Filmproduktionen, Björk, Sigur Rós und erstaunlicherweise Justin Bieber (dazu später mehr) immer noch nicht auf das Land der geballten Naturphänomene aufmerksam geworden war, der verfiel dem Charme der Fußball-Nationalmannschaft. Diese spielte sich innerhalb kürzester Zeit in die Herzen sämtlicher Fußballfans und wurde zu einem der Aushängeschilder des Landes. Vor einem größeren Publikum konnten der Charakter und die Werte eines Landes nicht repräsentiert werden. Huh?!
Wer bisher immun gegen den freundlichen Charakter des etwas verschrobenen, aber gerade dadurch so sympathischen Landes war […], der verfiel dem Charme der Fußball-Nationalmannschaft.
Aber auch nachdem die Anzahl der Tourist:innen längst die Marke von 1,5 Millionen (zum Vergleich: 2001 waren es knapp 300.000) geknackt hat, und das Werben um mehr Besucher:innen keine so große Rolle mehr spielt, arbeitet Island stetig an neuen Marketingstrategien, um ein authentisches und zugleich attraktives Reiseland zu bleiben. Heute stehen nachhaltige Konzepte im Vordergrund. Es gilt, die Kultur und vor allem Natur weiterhin zugänglich zu machen, aber gleichzeitig auch massiv zu schützen. Isländer mögen Musikfestivals, aber keine von Tourist:innen errichteten Steinhaufen oder eingezäuntes Land. Steinhaufen lassen sich problemlos abbauen, an einer zaunlosen Lösung zum Schutz der Landschaft wird gearbeitet. Im Falle der Schlucht, die in einem Video von Justin Bieber als Kulisse dient, bleibt zu hoffen, dass eine temporäre Sperrung für die Massen an Fans, die daraufhin hindurch trampelten, die gewünschten Resultate zeigt. Und (nicht nur) für die Besucher:innen der Festivals hat Reykjavík das Angebot an Unterkünften massiv ausgebaut. Zuletzt testeten die Isländer übrigens die 4-Tage-Woche und begannen Birkenwälder zu pflanzen, um zerstörten Wald zu ersetzen. Sympathisch sind sie also auch noch. (Der neueste Clou: Drei Islandpferde beantworten E-Mails, während man selbst im Urlaub ist.)
Die Entwicklung der „Marke“ Island zeigt, dass, wenn man Mut und smarte Ideen zusammenbringt, nicht alles – aber sehr vieles – richtig gemacht werden kann. Ein Best Case Beispiel mit Vorbildpotenzial. Man stelle sich nur mal vor, was machbar wäre, wenn es demnächst „Inspired by Harz!“ heißt: Bodo Ramelow, der seine Türen öffnet, um Klöße zu servieren und Billie Eilish, die ein Musikvideo im Naturpark Südharz dreht, während Netflix die neue Erfolgsserie „Breaking Brocken“ regional produziert …
Die nächste Best Case Kolumne wird vielleicht von Socken handeln. Das Thema weckt nicht soviel Fernweh.
* Sigrit Ericksdottir, Eurovision Song Contest: The Story of Fire Saga (Netflix)