Herzlich willkommen zu High Five mit Joachim Hentschel – los geht’s!
1. In deinem neuen Buch beleuchtest du ost- und westdeutsche Pop- und Rockmusik in Zeiten des Kalten Krieges. Wie erinnerst du dich an die Zeit damals …
Ich war 1980 zehn Jahre alt und interessierte mich schon damals rasend für Popmusik, die TV-Serien und Filme der Erwachsenen. Die latente Bedrohung durch den Kalten Krieg, die Aufrüstung und die Konsequenzen des NATO-Doppelbeschlusses waren damals auch in der Popkultur drastisch spürbar – ich denke an den US-Film „The Day After”, das Video „Two Tribes” von Frankie Goes To Hollywood oder natürlich an „99 Luftballons”, das von der Zerstörung der Welt durch den Atomkrieg handelt.
Ich selbst schrieb als 13- oder 14-Jähriger einige (allerdings leicht bizarre) Songs über das Thema, für meine Schulband: „Clap Your Hands To The Sound Of The Falling Bombs” oder „Flieg nicht zu tief, mein kleiner Freund” (damit war die Bombe gemeint). Musik und Filme aus der DDR waren in den BRD-Medien durchaus präsent, aber eben halt nur die Werke, für die sich im Westen auch Lizenznehmer fanden. Das waren leider nicht allzu viele.
2. … und wie hat sich dein Blick mit der Recherche zum Buch verändert?
Mir war vorher überhaupt nicht klar gewesen, auf welch abenteuerlichen Wegen selbst eher bieder wirkender DDR-Pop von Karat oder den Puhdys in den Westen kam. Und dass es sogar DDR-Bands gab, deren Platten nur in der BRD erschienen, weil sie in der DDR keiner wollte – sogar bei der später ultrabekannten Band Silly war das am Anfang so. Alles, was in dieser Hinsicht passierte, ging auf die Initiative einzelner Glückritter/innen zurück – auch die berühmten Osttourneen westlicher Bands.
Viele dieser Macherinnen und Macher konnte ich aufspüren und ihre Geschichten erzählen lassen. Gleichzeitig wurde mir noch einmal klarer, dass vor allem die 80er eine Zeit waren, in der deutschsprachiger Pop auf beiden Mauerseiten politisch unglaublich aufgeladen war.
Einigen Fällen gehe ich im Buch nach, aber es war als Symptom ganz universell gültig. Auch Bands, die uns im Nachhinein wenig aufregend erscheinen, begaben sich mit Auftritten und Songtexten zwischen die Fronten des Großmächte-Diskurses. Ob das Selbstüberschätzung, Eigen-PR oder Angeberei war, dazu muss man die Einzelfälle betrachten. Manche sind durchaus umstritten.
3. Welches Ereignis oder welche Begegnung hat dich während der Recherche besonders bewegt?
Ich habe – neben diversen Prominenten von Udo Lindenberg bis Bela B – mit vielen sehr beeindruckenden Persönlichkeiten aus der zweiten Reihe gesprochen, deren Namen zum Teil kein Mensch kennt. Zum Beispiel mit Rainer Börner, einem früheren FDJ-Kultursekretär, der selbst ein Rock’n’Roller war und in die strikt politisch-linientreue Jugendorganisation einen ungeheuren Entdeckergeist und ein sehr ungezwungenes Verhältnis zur Westkultur einbrachte. Er war der Kopf hinter den berühmten Ostberlin-Konzerten von Depeche Mode, Bruce Springsteen und Rio Reiser. Zum Interview besuchte er mich zu Hause, wir saßen rund fünf Stunden zusammen, und er erzählte mir seine absolut irrwitzige Lebensgeschichte. Sechs Wochen später hörte ich, dass er völlig überraschend an einem Herzinfarkt gestorben war. Das vorletzte Kapitel meines Buches basiert zu einem Großteil auf seiner widersprüchlichen, außerordentlichen Biografie.
4. Antikriegspop – gibt’s heute etwas vergleichbares? Oder was kann Musik heute noch?
Wir müssen der Sache ins Auge sehen: Ihre wirklich sehr zentrale und umfangreiche Funktion als Transportmittel für Haltungen und Lebenswelten hat die Popmusik heute einfach nicht mehr. Die haben unter anderem die sozialen Medien übernommen. Man merkt es schon daran, dass auch auf Demos gegen den russischen Krieg gegen die Ukraine vor allem alte Antikriegslieder aus den 60ern und 70ern gespielt wurden – einer Zeit, in der man noch wirklich an die magische Funktion von Musik glaubte.
Würden wir heute noch so etwas wie „Imagine” als aktuellen Beitrag hören wollen? Es käme uns ohnehin naiv oder sogar politisch destruktiv vor, denn einen Popsong, der zu Waffenlieferungen in die Ukraine aufruft, wird es wohl nicht geben. Ein guter, produktiver Kanal kann Pop trotzdem noch sein, um denen eine Stimme zu geben, die von ihrer Unterdrückung berichten oder ihre Subjektposition stärken wollen. Man denke nur an den Sieg der Ukraine beim Eurovision Song Contest oder die jüngste Konzerttour der russisch-oppositionellen Band Pussy Riot.
5. Dann hat David Hasselhoff die Mauer also gar nicht zum Einstürzen gebracht?
Vielleicht ja doch, das Gegenteil konnte ich nicht beweisen. Irritiert hat mich eher, dass Phil Collins bei der Sache auch eine wichtige Rolle gespielt hat. Als er an Pfingsten 1987 mit Genesis am Westberliner Reichstag spielte, gab es jenseits der Mauer verheerende Tumulte, weil die Vopos die Ostberliner daran hindern wollten, auf den Straßen der Musik von drüben zuzuhören. Ich vermute, es dürfte das einzige Mal in der Weltgeschichte gewesen sein, dass die Musik von Genesis eine blutige Straßenschlacht auslöste, die den Sturz eines diktatorischen Regimes vorbereitete.
instagram.com/joachimhentschel
„Dann sind wir Helden – Wie mit Popmusik über die Mauer hinweg deutsche Politik gemacht wurde“ (Rowohlt)
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