Herzlich willkommen zu High Five mit Selma Wels – los geht’s!
1. Am 31.1. erschien „anders bleiben – Briefe der Hoffnung in verhärteten Zeiten”. In dem Buch schreiben du und 21 weitere Autor*innen Briefe an ein freigewähltes Gegenüber. Kannst du uns kurz erklären, was die Idee hinter dieser Sammlung ist?
Die Idee zu „anders bleiben“ ist inspiriert von Walter Benjamins 1936 erschienener Briefsammlung „Deutsche Menschen“ – ein bewusst gewählter Titel im Übrigen, um das Buch an der nationalsozialistischen Zensur vorbei auf den deutschen Markt zu bringen. Die gesammelten und von Benjamin zusammengestellten Briefe ausgewählter Persönlichkeiten wie Johann Wolfgang von Goethe, Immanuel Kant, Annette von Droste-Hülshoff, geschrieben zwischen 1783 und 1883, bildeten in ihrer Gesamtheit einen Gegenentwurf zum sogenannten Dritten Reich, zu Hass, Kälte, Vernichtungswut. Alles darin fragte: Was zeichnet einen «deutschen» Menschen aus? Was ist das überhaupt, diese Zuschreibung «deutsch»? Und ich fragte mich, warum wir uns mit diesen Fragen nach 85 Jahren immer noch auseinandersetzen müssen, was das Verbindende ist, das uns – jenseits von nationalen Zuschreibungen – ausmacht.
Dabei sind radikal persönliche Texte entstanden, die sich in Briefform von Mensch zu Mensch richten und Raum bieten zu reflektieren und zu verstehen, wie die Welt der „anders gemachten“ in unserer Gesellschaft sich zusammensetzt, welche Erfahrungen sie gemacht haben, welche Ängste sich ihren Weg bahnen und welche Lösungen für ein gleichberechtigtes Miteinander, nicht nur zwischen den Zeilen, sondern auch in der Realität, greifbar sind.
2. Können Bücher heute noch so eine Sprengkraft haben, dass sie wirklich etwas verändern? Wie ist das überhaupt mit Kultur?
Ich glaube, das Bücher grundsätzlich Auskunft und Aufschluss über unsere Gegenwart geben. Dass sie uns in literarischer oder wissenschaftlicher Form einen Spiegel vorhalten. Wenn der Text Zugang zum Lesenden findet – ja, dann können Bücher etwas verändern. Und das gilt natürlich auch für alle anderen Erscheinungsformen der Kultur wie Kunst, Musik, Theater usw. Der Kulturbegriff umfasst so vieles, über das Individuum hinaus, dass eine Welt ohne Kultur gar nicht möglich ist. Deswegen ist sie so bedeutend, denn letzten Endes ist alles, was sich der Mensch ausdenkt, was er macht, sagt oder erschafft Kultur. Wenn man so will, ist Kultur ein Menschenrecht.
3. Die Veranstaltungsreihe RIOT NOW! trägt schonmal einen kämpferischen Titel – was ist dein Fazit nach den ersten beiden Events?
Für die Konzeption der Reihe RIOT NOW stellten wir – Gün Tank, mit der ich gemeinsam dieses Format initiiert habe, und ich uns folgende Fragen: Wie prägt Rassismus das Land, in dem wir leben? Was kann die Zivilgesellschaft tun, wenn Politik und Staat keinen ausreichenden Schutz bieten? Und welche Aufgabe hat die Kultur?
Fazit nach den ersten beiden Events: Wir stehen noch am Anfang des Weges. Gesellschaftlich, institutionell und auch im Kulturbetrieb, da immer noch nicht Menschen, denen vielleicht der Zugang oder gar die Offenheit für andere, über ihre eigene Lebenswirklichkeit hinausgehende, Perspektiven fehlen, darüber entscheiden, wer welche Geschichten erzählen darf, wer gehört wird. Die Mechanismen im Literaturbetrieb z.B. wirken sich oft zum Nachteil u.a. weiblicher, queerer und Autor*innen of Colour aus. Das fängt schon mit dem Zugang zur Bildung an. Nachweislich haben überwiegend „weiße“ Personen aus Akademiker*innenhaushalten Zugang zu Literaturinstituten. Und dieser Kreis wird dann im Anschluss mit Preisen, Stipendien etc. gefördert und bekommt die Chance in Literaturhäusern zu lesen, Debatten zu prägen. D.h. wer oder was im literarischen Leben gehört, gelesen, gefördert wird, bildet keine repräsentative Schnittmenge zur gesellschaftlichen Realität in Deutschland.
4. Du warst 2022 im Literaturbetrieb omnipräsent, was kann jetzt überhaupt noch kommen, auf was können wir uns in Zukunft freuen?
Also erst mal „anders bleiben“ natürlich und hoffentlich noch viele weitere sinnvolle Bücher, Veranstaltungen und Projekte, die ich gestalten darf. Mir macht es unheimlich Spaß, Menschen auf die Bühne zu bringen und Begegnung zu schaffen – in welcher Form auch immer. Wenn wir uns nicht begegnen, können wir auch nichts verändern.
Und: Ich will etwas verändern. Chancengerechtigkeit, Gleichberechtigung und Teilhabe sind die Themen, die mich antreiben. Dafür stehe ich jeden Morgen auf.
Und mittlerweile ist es so, dass ich – gefragt oder ungefragt – versuche in diesem Sinne zu wirken, indem ich auf Missstände und Ungerechtigkeiten aufmerksam mache, Lösungen anbiete und einfach meine Privilegien nutze, die ich mir in den vergangenen 10 Jahren hart erarbeitet habe, um an bestimmten Stellen bestimmte Themen zu setzen. Letztendlich geht es immer um Sichtbarkeit. Wer nicht sichtbar ist, wird nicht wahrgenommen. Diese Sichtbarkeit und Transparenz möchte ich weiterhin ausbauen – in Buchform, mit neuen Formaten oder in welcher Form auch immer.
5. Und von wegen Zukunft: Was muss sich im Literaturbetrieb dringend ändern?
Wir brauchen kulturpolitische Mittel, um patriarchale Strukturen, die ja schon so lange und so stark unseren Alltag in jedem Lebensbereich prägen, dass wir sie schon fast gar nicht mehr wahrnehmen, aufzubrechen. Aus diesen Strukturen resultieren ungerechte Machtverteilungen, die unsere gesellschaftliche Realität bestimmen. Das betrifft den Literaturbetrieb genauso. Quoten werden ja immer heiß und innig diskutiert, indem man Qualifikation und Quote gegeneinander ins Wettrennen schickt. Allerdings, wenn wir jetzt mal die Frauenquote als Beispiel heranziehen, denke ich, dass es heute weitaus weniger Frauen in Führungspositionen gäbe, wenn diese Quote nicht eingeführt worden wäre. Und diese Frauen sind durchaus qualifiziert. Also warum dann vielleicht nicht mal über eine Diversitätsquote nachdenken, wenn denn schon klar ist: Von alleine ist keiner (ich habe an dieser Stelle das Gendern nicht vergessen) bereit Platz zu machen, auch wenn Tisch und Kuchen groß genug für alle sind.
Titelfoto: Picture People
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„anders bleiben – Briefe der Hoffnung in verhärteten Zeiten” (Rowohlt)
Termine
13.02.2023 – anders bleiben Frankfurt am Main, Evangelische Akademie live und im Stream mit Maryam Aras, Shida Bazyar, Dilek Güngör, Hasnain Kazim, Achim Stanislawski, Najem Wali und Selma Wels, Moderation Jörg Sundermeier
14.02.2023 – anders bleiben in Hanau, Kulturforum Hanau mit Maryam Aras, Dilek Güngör, Hasnain Kazim und Selma Wels, Moderation: Elena Witzeck
16.02.2023 – anders bleiben Berlin, Heimathafen Neukölln mit Asal Dardan, Leila Essa, Ozan Zakariya Keskinkılıç und Selma Wels, Moderation Fatma Aydemir.
24.03.2023 – anders bleiben in Reutlingen, Stadtbibliothek Reutlingen mit Elisa Diallo und Selma Wels
Transparenzhinweis: Sowohl CoCo – Content Collective wie KRAUT & KONFETTI, die beide Teil von konfekt sind, arbeiten seit geraumer Zeit bei verschiedenen Projekt mit Selma Wels zusammen.